Zum
Gedenken an Staatssekretär
Dr. Andreas Grieser
„Am
22. Oktober 1955 trugen wir Dr. Grieser zu Grabe. Er starb in
der Herbstzeit des Jahres, da die Früchte der Felder und
Wiesen, der Bäume und Gärten in die Scheunen gebracht sind.
Seine letzte Ruhe fand er auf dem Friedhof von Garmisch zu
Füßen des Kramerberges. Seine Ruhestätte war bedeckt mit der
Blumenpracht des Herbstes; die Bäume des Friedhofes leuchteten
in der überreichen Fülle herbstlichen Wunders.
Als
der Sarg in die Grube gesenkt wurde, erklang die Weise vom
guten Kameraden. Die offiziellen Vertreter sprachen am Grabe von
dem großen Mann und seinen großen Taten; die Bayerische
Staatsregierung (Staatssekretär Weishäupl), die
Bundesregierung (Staatssekretär Dr. Sauerborn), der Bayerische
Landtag, Vertreter von Verbänden der Versicherungsträger, der
Kriegsopfer usw., alle legten herrliche Kränze und
Blumengebinde nieder. Aber die ihn wirklich zur letzten Ruhe
betteten, waren die Scharen jener, deren Wohl sein Leben und
seine Sorgen, sein Arbeiten und Denken gewidmet war: die Armen,
die Alten, die Blinden, die Kriegsopfer, die Opfer der Arbeit,
die Notleidenden und die im Schatten des Lebens stehenden.
Dr.
Grieser war 88 Jahre alt geworden - ein biblisches Alter; mehr
noch: ein gesegnetes und erfülltes Leben. Sein Körper trotzte
den Jahren des Alters. Sein Geist blieb ungebrochen bis zuletzt;
seine Kraft arbeitete, bis ihm nach kurzem Krankenlager der Tod
das Werkzeug aus der Hand nahm. Er glich einer Wettertanne in
den Bergen. Die Wettertannen stehen draußen, weit draußen
vor dem dichten Bergwald, da, wo die Grenze zieht zwischen der
Region des Wachstums und des Lebens und den kahlen Regionen von
Fels und Eis. Sie schützen den Wald vor Sturm und Gefahr, sind
Wächter des Lebens vor den feindlichen Mächten der Vernichtung
und des Todes, die den Bergwald bedrohen. Sie sind zerrissen und
zerzaust von den Stürmen - aber sie stehen und halten Wacht.
Griesers
Leben? – 1868 als Sohn kleiner Bauern geboren, erlebte er
Bismarck, das Kaiserreich, erlebte er wissend die Grundgesetze
der Sozialpolitik und der Sozialversicherung, erlebte er die
Weimarer Republik, das Dritte Reich: erlebte er den Totentanz
zweier Weltkriege, zweier Zusammenbrüche; erlebte er zwei
Währungskatastrophen, erlebte er die Flüchtlingskatastrophen
und das Chaos und die Demütigungen einer Zeit, die Ordnung und
Bindungen aufzulösen schien.
Aber
Grieser sah auch glückliche Zeiten. Glückliche Zeiten freilich
waren für ihn nur jene Zeiten, da er arbeiten und walten und
sorgen konnte; denn Ruhe und sich selbst schonen waren für ihn
fremde Begriffe.
Wer
die Geschichte seines Arbeitens schreiben wollte, müßte
beinahe die Geschichte der deutschen Sozialpolitik, zumal der
deutschen Sozialversicherung schreiben. Vor allem in der zweiten
Hälfte seines Lebens stellte ihn Berufung und Schicksal
auf Kommandobrücken. Nach seiner Tätigkeit als Rechtsrat in
München und als Oberbürgermeister in Würzburg trat er 1920
als Ministerialdirektor in das Reichsarbeitsministerium ein, um
- später auch als Staatssekretär - gestaltend und formend der
deutschen Sozialversicherung Gesicht und Inhalt zu geben.
Kassenarztrecht, Familienhilfe, Knappschaftsrecht, Neufassung
der Reichsversicherungsordnung usw., die übrigen
Sozialversicherungsgesetze und Verordnungen der Weimarer
Republik, werden immer mit seinem Namen verbunden bleiben. 1933
brüske Verabschiedung durch die neuen Machthaber; erzwungenes
Arbeiten und Leben in der Stille seiner pfälzischen Heimat.
Aber 1945/46, als alle Ordnungen aus den Fugen waren, war er
wieder da und warf sich dem Chaos und der Auflösung entgegen.
Als Staatssekretär im Bayrischen Arbeitsministerium suchte er,
neue Grundlagen sozialpolitischen Wirkens zu legen. Er gönnt
sich selbst keine Ruhe und keine Schonung. Wenn es gelungen ist,
in erstaunlich kurzer Zeit wieder so etwas wie festen Boden zu
schaffen, dann darf Griesers Name mit an erster Stelle genannt
werden; Wiederaufbau der Kriegsopferversorgung in Bayern, die
Sorge, daß die Versicherungsträger wieder arbeiten und ihre
Menschen betreuen konnten, das geglückte Auffangen der Flut der
Heimkehrer und Gefangenen, das bayerische Blindengeldgesetz, der
Ausbau der Sozialversicherungsrechtsprechung, das bayrische
Betriebsrätegesetz, sein Arbeiten im Stuttgarter Länderrat, im
Frankfurter Wirtschaftsrat und später im Bundesrat –
vergebliches Beginnen, im Rahmen dieser kurzen Zeilen auch nur
in etwa andeuten zu können, was Grieser gearbeitet und getan
hat: Das muß dem sozialpolitischen Historiker vorbehalten
bleiben.
Wer
in seiner Nähe oder gar mit ihm arbeiten durfte, mußte
den großen Menschen Grieser achten. Fachkenner und Fachkönner
mag es mehr geben. Grieser war mehr als ein großer Fachmann. Er
war ausgeprägte Persönlichkeit; Treue war seine
hervorstechende Eigenschaft. Er lehnte Opportunisten und
Menschen ab, die den Mantel nach dem Winde hängen. Er war ein
Mensch der Wahrheitsliebe, der Meister des Wortes und der Feder
gebrauchte nie Superlative. Er war aber vor allem ein Mensch, in
dessen Brust ein Herz schlug, das nur Gerechtigkeit, noch mehr
aber Liebe zu seinen Nächsten kannte.
Dr.
Grieser ist nicht mehr. – Lebt er wirklich nicht mehr? Es
wäre traurig um all jene bestellt, die mit ihm arbeiten
durften oder die spürten, was Grieser in seinem ganzen Leben
für das deutsche Volk gearbeitet hat. Jetzt, da wir daran
gehen, unser gesellschaftliches Leben neu zu ordnen und zu
gestalten, jetzt, da die Sozialreform unserem
gesellschaftlichen Sein ein neues Gesicht geben soll, wird
Griesers Vermächtnis weiter wirken müssen. Wenn der Geist der
Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und der Wahrheit und Treue
in gleicher Stärke lebendig bleibt, wie er Griesers Arbeiten
getragen hat, wird nicht nur der große Tote geehrt werden,
sondern die deutsche Sozial- und Gesellschaftspolitik wird
jene Wege gehen, die auch heute richtungsweisend sein
werden." |